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Katja und Christopher Triplett  (bearbeitet und ergänzt durch Hans Geissberger)

Heutzutage wird Kyudo von Tausenden von Menschen in aller Welt zur geistigen Schulung und spirituellen Entwicklung praktiziert. Die schlichte Eleganz der Bewegungen, die Schönheit des Yumi – (Bogen), der Ya – (Pfeile) und die Atmosphäre von Ruhe und Würde, die in dem Dojo – (Übungsstätte) herrscht, üben eine grosse Faszination auf diejenigen aus, die den Pfad der Selbsterkenntnis gehen möchten. Denn der Antritt der Wanderung auf dem Pfad des Kyudo – 弓道 (Weg des Bogens) ist zugleich der Antritt zur Reise der Erkenntnis, auf der man lernt, mit neuen Augen zu sehen und mit neuen Ohren zu hören. Von aussen betrachtet, scheint Kyudo Bogenschiessen zu sein. Den Bogen zu spannen und dann auf die Scheibe zu schiessen ähnelt einem Geschicklichkeitstest, aber Kyudo ist kein Sport. Um das wahre Wesen des Kyudo zu entdecken, muss man den Blick nach innen richten und jegliche Beschäftigung, seien es Sorgen, Hoffnungen, Zweifel oder Ängste, mit dem Treffen des Ziels durchtrennen und überschreiten. Zwar wurde die Kyudo-Form über die Jahrhunderte hinweg immer wieder verändert und verfeinert, in verschiedene Ryu - (Lehrrichtungen) und diese wiederum in Ha –派 (Untergruppen) je nach Kata - (Stil) und Besonderheiten der Waza - (Technik) unterteilt. Die Essenz der wahren Kyudo-Praxis jedoch bleibt immer dieselbe: Sie ist Ritsu Zen – 立禅 (Zen im Stehen).


 

Die Entwicklung des Bogens

Der fruchtbare Boden, auf dem der japanische Bogenweg zu dem heranwuchs, wie wir ihn kennen, ist aus verschiedenen Schichten der geistigen Traditionen des Konfuzianismus, des Daoismus, des Shinto und der buddhistischen Lehre zusammengesetzt. Diese Traditionen gelangten zu unterschiedlichen Zeiten vom Festland auf den japanischen Archipel und fügten sich dort auf eine ganz spezifische, "typisch japanische" Weise unentflechtbar in das einheimische Vorstellungsgewebe ein. Natürlich kamen nicht nur religiöse Ideen und Praktiken und Modelle für die gesellschaftliche Organisation aus China und Korea nach Japan, sondern auch unzählige materielle Kulturgüter. So wurde auch der Prototyp des asymetrischen Bogens wohl nicht auf dem Archipel erfunden, sondern mit den Trägerinnen und Trägern der Yayoi-Kultur etwa im 3. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung nach Japan eingeführt.

Diese eingewanderten Volksgruppen eindeutig mongolischer Herkunft verwendeten Pfeil und Bogen vor allem in kriegerischen Auseinandersetzungen um Boden- und Wasserrechte. Sie vermischten sich bis zu einem gewissen Grade mit den ansässigen Jomon- Menschen, die ihrerseits das Wissen um Keramikherstellung, Jagd mit Pfeil und Bogen und andere kulturelle Errungenschaften vom Festland mitgebracht hatten (ab etwa 10 000 v. u. Z.). Die ausgegrabenen Jomon- und Yayoi-Bogen und auch die Bogen der später in den Norden Japans abgedrängten Volksgruppe der Ainu sind aus einem einzigen Stück Holz gefertigt, also sog. Stabbogen im Gegensatz zu den weitaus elastischeren und stabileren Kompositbogen oder Reflexbogen, die in Japan erst zu Beginn des 11. Jahrhundert allmählich auftauchten. Auch hier kann man davon ausgehen, dass das Wissen um den zusammengesetzten Bogen aus China kam. Die Bedeutung der Erfindung des Bogens für die Menschheitsgeschichte könnte man mit der Nutzbarmachung des Feuers durchaus vergleichen. Interessant ist hierbei, dass der Bogen, ob als Kriegs- und Jagdwaffe, als Feuerdrill, Prototyp des Saiten- bzw. Zupfinstruments oder als Ritualgegenstand, in den verschiedenen Erdteilen jeweils unabhängig erfunden wurde. 


Der Bogen als Waffe

Für die Kriegsführung waren, nicht nur in Japan, vor allem die berittenen Bogenschützen von ausserordentlicher Bedeutung. Man konnte zu Beginn der Kampfhandlung, flächendeckend und sekundenschnell, dem noch weit entfernten Feind verheerende Verluste zufügen. Auch bei Belagerungen und beim Kampf auf See wurden Bogenschützen eingesetzt.

Der heutige japanische Bogen, der Yumi, ist nicht nur wegen seiner asymetrischen Form einzigartig, er ist zugleich auch mit durchschnittlich 2,3 Metern der längste Bogen der Welt. Seine Zähigkeit und Haltbarkeit auf der einen, seine Empfindlichkeit und sein Hang zur Veränderung auf der anderen Seite sind am anschaulichsten mit einem hölzernen Musikinstrument, einer handgefertigten Geige etwa, vergleichbar.

Der magische Bogen

Der Bogen fand in Japan aber nicht nur praktische Anwendung als Waffe, um Tiere zu erbeuten oder Menschen zu töten, sondern auch als Ritual- und Kultgegenstand Verwendung. In der Tat ist das Zupfen der Bogensehne Teil des uralten Rituals der Schamaninnen in Japan, das ihnen dazu dient, sich in einen Zustand der Empfänglichkeit für Botschaften aus dem Jenseits zu versetzen.
Der magische Azusa-Yumi wird aus Katalpe (Azusa) oder Kirsche hergestellt und mit Urushi (Lack) gefärbt, mit Blattgold und Seidenkordeln verziert. Dies ist auf eine uralte chinesische Zaubertradition zurückzuführen, die mit der Besänftigung der Totenseelen zu tun hat. Alle 20 Jahre werden
59 Azusa-Yumi im grossen Shrein von Ise dargebracht. Es sind 29 zinnoberrote und 30 schwarze. Zinnober steht für männliche Energie und schwarz für die weibliche Energie. Der Ise-Shrein ist Japans wichtigster Shinto-Shrein mit dem Göttersitz von Amaterasu Omi-Kami. Das letzte Mal fand das 2013 statt.

Vor etwa 700 Jahren erschien ein Dämon im kaiserlichen Palast. Er kam nachts herein und liess den Kaiser erkranken. Der ausgezeichnete Bogenschütze Yorimasa Minamoto wurde zum Palast geschickt. Er kam in einer Vollmondnacht, da der Dämon sich nur nachts durch seinen Ruf bemerkbar machte. Er entdeckte ihn auf dem Dach des Tempels und schoss. Getroffen fiel der Vogel in den weissen Sand und rotes Blut zeigte sich im Lichtschein des Mondes. Um sicher zu gehen, schoss Yorumasa einen zweiten Pfeil. Der Kaiser gewann seine Gesundheit zurück, und Yorimasa wurde befördert. Dies war der Ursprung der Hama-Yumis. Seit jenem Legenden umworbenen Ereignis steht die Familie Yorimasa’s mit dem Klannamen Shibata im Dienste des Kaisers.
Weiterhin findet der Hama-Yumi, der "Böses vernichtende Bogen", in zahlreichen Zeremonien in buddhistischen Tempeln und Shinto-Schreinen Verwendung (z.B. Shihobarai) und beschützt, in der Ehrennische oder auf dem Hausschrein aufgestellt, die privaten Haushalte vor üblen Einflüssen.

Von der Technik zum Bogenweg

Der Konfuzianismus lehrte das Bogenschiessen als geeignete Form zur Bildung der vollkommenen Persönlichkeit. Diese Lehre hatte schon im 4. Jahrhundert in den Adelskreisen begeisterten Anklang gefunden. Zwar brach der Kontakt zwischen Japan und China aus politischen Gründen im 9. Jahrhundert für einige Zeit ab, dennoch hielt der Einfluss des chinesischen Denkens über die Weltordnung, über die anzustrebende Harmonie von Himmel, Mensch und Erde auf das japanische Bogenschiessen an. Der Shogun Yoritomo setzte alles daran, seine Krieger effizienter auszubilden. Er beauftragte Ogasawara Nagakiyo, eine neue Art des Bogenschiessens zu Pferd, das berühmte Yabusame, zu lehren. Damit war auch die Gründung der Ogasawara-Ryu oder Ogasawara-Schule in die Wege geleitet. Takeda, der Begründer der Takeda-Ryu, und Ogasawara waren beide Nachkommen des Gründervaters der ersten Bogenschiessschule in Japan überhaupt: Henmi Kiyomitsu (Der Name seiner Schule ist Henmi-Ryu).

Während der Periode, in der das Shogunat in der Stadt Kamakura angesiedelt war (1185 - 1333), nahmen die Samurai die Methoden und Lehrinhalte des Zen-Buddhismus auf. Der Zen- oder Meditations- Buddhismus war gerade eben von den Mönchen Dogen (Begründer der Soto-Schule) und Eisai (Begründer der Rinzai-Schule) aus China eingeführt worden. Die Auffassung der Zen-Mönche von der unbedingten Hingabe an den Meister und ihre Betonung strenger asketischer Praktiken, bei der die direkte, intuitive Erfahrung der nicht-dualen Natur der Wirklichkeit im Mittelpunkt steht, fanden grosses Interesse und Nachahmung bei den Kriegern. Die neuen Zen-Praktiken erlaubten ihnen, ihre Pflichten effektiver zu erfüllen und ungerührt von Hoffnung und Furcht in den Kampf zu ziehen. Erst viel später jedoch kam der Zen-Aspekt im Üben mit dem Bogen zur vollen Reife.

Einer der einflussreichsten Bogenschützen ist der legendäre Meister Heki Danjo Masatsugu (ca. 1443 - 1502). Seine Schusstechnik, die ihm in Form eines Geistesblitzes enthüllt wurde, war geradezu revolutionär und verbreitete sich rasch unter den Bogenkriegern. Im Laufe der Zeit bildeten sich viele "neue Schulen", Heki-Ryu Untergruppen, von denen einige bis heute bestehen (Sekka-ha und Insai-ha). Die Chikurin-ha wurde durch Heki Yazaemon Noritsugu, der möglicherweise derselben Familie wie Heki Danjo Masatsugu entstammte, gegründet.

Obwohl die Samurai die europäischen Feuerwaffen anfänglich mit Abscheu betrachteten, verdrängten diese, ab dem 16. Jahrhundert zunächst in Form von portugiesischen Musketen, den Bogen als Kriegswaffe. Es wurden einige Anstrengungen unternommen, wie die Einführung eines sportlich orientierten Bogenschiesswettbewerbs (Toshiya - 通し矢) am Tempel Sanjusangendo in Kyoto, um den Bogen als Waffe zu erhalten. Dennoch waren die Tage des Kriegsbogens gezählt. Dies ist  der Grund, weshalb die Betonung des Übens im Bogenschiessen letztendlich auf geistiges Training und Charakterbildung gelegt wurde, zumal die Jahrhunderte unter den Tokugawa-Shogunen eine vergleichsweise friedliche Zeit waren.

Der Begriff des Kyujutsu bestand bis in die Edo-Zeit (1600 - 1868) hinein weiter, obwohl Morikawa Kozan, Begründer der modernen Yamato- Ryu, schon 1660 erstmals den Begriff "Kyudo" erwähnte. 

Der Bogenweg in der Moderne

Im Jahre 1868, dem Jahr der quasi erzwungenen Öffnung Japans und der Wiedereinsetzung des Kaisers (Tenno) als aktiver politischer Herrscher, wurde von der kaiserlichen Regierung versucht, die "Kriegerwege" (Bushido) abzuschaffen. Dem Versuch war jedoch kein grosser Erfolg beschert. Gleichzeitig wurde der bis dahin staatstragende Stand der Samurai aufgelöst.

 

Um die Jahrhundertwende trat erneut ein Reformator auf die Bühne des Kyudo Geschehens: Honda Toshizane (1836 -1917). Er selber lernte in der Edo Zeit Kyudo in der Heki ryu Bishu chikurin ha. Nach der Meiji Restauration (1868) wandten sich viele Samurai von den Budo (Kriegskunstwege) ab, auch Kyudo starb fast aus. Honda wollte sich damit nicht zufrieden geben und lehrte seit ca. 1890 an verschiedenen Schulen und Hochschulen im Raum Tokyo. Mit seiner neuen Praxis, die den Kriegerstil (Chikurin ha) und den Zeremonialstil (Ogasawara ryu mit Yabusame) zu einer Einheit zusammenführte der ein zentrales Heben des Bogens (Shomen) beinhaltet, traf er zunächst auf heftigen Widerstand bei den alten Schulen. Doch in Form einer neuen Schule, der Honda Ryu fand er bei der allgemeinen Öffentlichkeit Akzeptanz. So breitete sich diese Form schnell aus und ebnete den Weg für die heute von der ANKF als Shomen Stil zum Standart deklarierten Form. In den dreissiger Jahren versuchte der Grossjapanische Verband der Kriegertugenden (Dai Nippon Butoku Kai) Praxisstandards für Kyudo zu etablieren, was 1934 auch gelang.

Nach der Niederlage des Zweiten Weltkriegs waren die Kampfkünste auf Druck der USA zunächst verboten. Seit der Wiederzulassung 1952 sind die vereinsmässig organisierten klassischen Kampfkünste für jedermann und erstmals auch jedefrau ungeachtet der Finanzsituation offen zugänglich. Seit 1946 gehören die meisten Schulen der Gesamtjapanischen Kyudo-Föderation (Zen Nihon Kyudo Renmei) an, die dann 1953 Praxisstandards festgelegt hat, nach denen sich die Mitglieder, auch in den Gruppierungen ausserhalb Japans, richten. Im Mai 2006 wurde in Kyoto die "International Kyudo Federation“ (IKYF) gegründet.
Die Heki ryu Bishu chikurin ha gehört keiner dieser Organisationen an, da die Shibatas ein Rangsystem in ihrer Schule ablehnen und eine Meditationspraxis keiner Dan-Prüfung bedarf.
Heute schätzt man die Zahl der Kyudo-Praktizierenden auf ca. eine halbe Million.


Ein spiritueller Pfad

Kyudo ist keine religiöse Praxis, dennoch ist es stark von Zen-Buddhismus und Shinto beeinflusst. Die zeremoniellen Aspekte, die Etikette und der Respekt, der dem Bogen, den Pfeilen und der Praxisstätte (Dojo) gezollt wird, sind als Reflektionen des Shinto-Denkens zu werten. Während also die äusseren Formen des Kyudo sehr dem Shinto-Ritual ähneln, in welches wiederum Elemente des höfischen Bogenschiessens aus der chinesischen Tradition aufgenommen wurden, ist das Herz des Kyudos mit der Zen-Philosophie und der in diese eingeschmolzenen Auffassung  des Dao verbunden.

In den Zen-Lehren heisst es, dass unser wahres Selbst unter dicken Lagen von gewohnheitsmässigen Gedankenmustern, Selbsttäuschung und Ego verborgen ist. Wir leben in einer Traum-Welt, die wir selbst fabriziert haben. Das Ziel der Zen-Praktiken besteht darin, diese Lagen der Illusion und des Egos abzutragen, so dass wir uns von der dualistischen Einstellung befreien können. Diese Einstellung hindert uns daran, unsere eigene wahre Natur zu erkennen und in einer harmonischen Weise mit uns selbst und anderen - dem gesamten Universum - zu leben.

Beim Zazen - 座禅 (Sitzmeditation) strebt man danach, Körper und Geist zu vereinigen, indem man auf den Atem achtet und eine bestimmte Sitzhaltung beibehält. Kyudo als "aktives Zen" beinhaltet das gleiche Konzept hinsichtlich des Zusammengehens von  Geist, Atem und Körperhaltung. Somit kann die Erfahrung von Zen hilfreich für das Verständnis des Wesens und der Philosophie des Kyudo sein.
Für ernsthaft Praktizierende ist Kyudo ein Lebensweg; es besteht keine Trennung zwischen Kyudo- Übung und den Verrichtungen des täglichen Lebens. Jeder Pfeil wird abgeschossen, als wäre es der einzige überhaupt, so wie jeder Moment der eigentliche und letztendliche ist. Der Bogenmensch (Kyudoka/-jin) schaut nicht auf die Zielscheibe, um zu sehen, ob er getroffen hat, sondern nach innen, da die Scheibe als Spiegel meiner selbst verstanden wird. Und wenn das Herz richtig eingestellt ist, dann wischt jeder Schuss ein wenig mehr von den Wolken fort, die unseren Blick auf unsere wahre Natur verdecken.