In der Chiikurin ha wird der Schiessablauf in sieben Schritten (sieben Koordinationen) vollzogen. Die Anweisungen dazu gehen auf den Gründer der Schule ins späte 16. Jahrhundert zurück. In der Einführung lernt man diese Schritte kennen und versucht, sie möglichst genau umzusetzen. Durch die Korrekturen wird versucht, die subjektive und die objektive Wahrnehmung in Einklang zu bringen. Dadurch beginnt ein persönlicher Prozess, der als Kyudo – Weg des Bogens – bezeichnet wird und unser Leben verändern kann.
Vorbereitung
Yo i 用意 – das rechte Herz erlangen
Die linke Hand hält den Yumi (弓 Bogen), die rechte Hand hält den Ya (矢 Pfeil) in entspannter und aufrechter Weise, wobei drei gerade Linien entstehen: Yumi, Körper und Ya. Denke dir diese drei als Einheit. Die Füsse sind gerade und stehen von den Zehen bis zur Ferse parallel zueinander im Abstand einer Faustbreite. Die Augen blicken leicht abwärts, ohne sich auf irgend etwas zu konzentrieren. Der Körper ist vollständig bereit und «lauscht». Er ist offen und entspannt. So wie sich der Körper öffnen und entspannen kann, so kann es auch der Geist (und umgekehrt). Du bist wie ein leeres Gefäss, bereit und wach, doch ohne Inhalt.
YUMI DAOSHI, auch YUDAOSHI 弓倒し – senken des Yumi zur Hüfte
Langsam, natürlich atmend, führe deine rechte Hand zur Spitze des Ya. Dann hebe Yumi und Ya leicht an und kippe beide gleichzeitig zur Hüfte, so dass die Arme einen Kreis in einer vertikalen Ebene bilden. Die Spitze des Yumi zeigt abwärts und berührt nahezu den Boden in der Mitte vor dir. Yumi und Ya liegen in einer Ebene und bilden eine V-Form.
Shichido 七道 die sieben Koordinationen
I: ASHIBUMI 足踏み – setzen der Füsse
Das Ziel lädt dich ein, so wie man den Klang einer Tempelglocke hört, und du fühlst dich hingezogen. Der Kopf dreht sich achtsam und langsam dem Ziel, deine Augen erblicken das Ziel und konzentrieren sich auf einen Punkt. Von da aus ziehe eine Linie abwärts zum Boden, so als verfolgtest du, wie sich eine Spinne an ihrem Seidenfaden herunterlässt, oder wie eine Schneeflocke zur Erde fällt. Verlängere diese gerade Linie bis zu dir, strecke den linken Fuss aus und setze deine grosse Zehe auf diese Linie. Führe die Linie fort und setze den rechten Fuss im gleichen Abstand von deiner Mitte. Die Füsse sind um ungefähr 45 Grad nach aussen gedreht (wie auf der Abbildung rechts) gestellt. Wende nun deinen Kopf wieder nach vorne und versichere dich, dass der Yumi genau in der Mitte vor dir ist. Die Beine knicken bei dieser Bewegung nur leicht ein und strecken sich dann wieder.
für Fortgeschrittene
Stelle den linken Fuss nach fast 90° nach aussen und platziere den rechten Fuss rechtwinklig dazu
Oi-Mato 背的: vor der Linie stehen, das Mato im Rücken haben. Bedingt und erfordert ein starkes Hanare. Ist gut, wenn man müde ist.
Daki-Mato 抱的: hinter der Linie stehen. Löst ein schlappes und flaues Hanare aus.
II: DOZUKURI 胴造り– festigen des Körpers
Festige deinen Stand vom Hara abwärts wie ein Baum, dessen Wurzeln fest in die Erde gepflanzt sind und dessen Zweige sich aufwärts zum Himmel ausbreiten. Spanne die Muskeln im Gesäss und in den Oberschenkeln. Drehe die Knie ein wenig einwärts, so dass die Waden leicht nach aussen gedreht sind. Die Füsse sind wie Wurzeln fest verankert oder wie Tigerkrallen, die eine Beute festhalten. Der Oberkörper ist aufgerichtet, so als ob ein Faden deinen Kopf leicht zum Himmel zöge. Entspanne die Schultern. Spüre ungestört die Umgebung. Füsse, Hüften und Schultern bilden drei parallele Linien in einer horizontalen Ebene (San ju ju mon ji 三重十文字).
Wenn du diese «Verbindung von Himmel und Erde» erreicht hast, dann hebe den Yumi und setze ihn ausserhalb oder in die Mitte des linken Beines, so dass die Yumihand auf Herzhöhe ist. Fühle deine Ellbogen, wie sanft unterstützt, und senke sie nicht. Halte den Yumi locker mit der linken Hand und ergreife die Tsuru 弦 (Sehne) mit dem kleinen Finger der rechten Hand und drehe den Yumi. Lege den Ya ein und streiche zweimal von unten, einmal von oben über seine Federn (Bedeutung: obere Feder → «Himmel», Feder vom Yumi wegschauend → «Erde», zum Kyudojin gerichtete Feder → «du selbst» sind vereint im Pfeilschaft). Nun raste den Ya mit der Hazu 筈 (Nocke) beim Nakashikake 中仕掛 (Sehnenwicklung) in der Tsuru ein (Yahazu). Kehre mit der rechten Hand zurück zur ursprünglichen Stellung an der Hüfte. Bei formellen Vorführungen kann hier ein Mato wari gemacht werden.
Yatsugai 矢番い – einlegen des Pfeils
III: YUMI GAMAE, auch YUGAMAE 弓構え – den Yumi positionieren
Torikake 取懸け (Sehnengriff): Führe die rechte Hand zur Tsuru, wobei der kleine Finger und der Ringfinger fest in die Handfläche gekrümmt sind, und führe den Daumen des Kake かけ (Handschuh) über die Tsuru bis zum Einrasten. Die Daumenspitze drückt in die Kehle des vordersten Gelenks des Mittelfingers. Der Zeigefinger ruht auf der Oberseite des Mittelfingers. Kippe die Kake-Hand leicht in deine Richtung. Die Arme sind in runder Form ausgebreitet, als ob sie den Stamm eines grossen Baumes umschliessen würden.
Der Kopf dreht sich langsam zum Ziel, so dass das Gesicht ins Profil kommt.
Als nächstes schwenken die Arme ca. 45 Grad in Richtung Ziel, wobei sie stets die Form der Baumumarmung bewahren, welche nun oval wird. Der Griff der linken Hand ist locker, so dass sich der Yumi darin leicht drehen kann, während die Arme zum Ziel schwenken. Bei dieser Bewegung werden Daumen und Zeigefinger der linken Hand unter dem Ya positioniert. Der Ya liegt nun frei auf dem linken Daumen und wird nur durch den Zeigefinger der rechten Hand gegen den Yumi gedrückt.
IV: UCHI OKOSHI 打起し – aufrichten zum Schiessen
Hebe den Yumi langsam mit der Kake-Hand wie aufsteigender Nebel gerade nach oben – mit dem Gefühl, als ob sich dein umarmter Baum zum Himmel hin bewegt –, bis sich der Ya in Scheitelhöhe befindet und auf das Ziel zeigt. Der Kopf bleibt direkt auf das Ziel gerichtet und neigt sich weder auf- noch abwärts. Die Augen blicken über den linken Unterarm, der mit ca. 45 Grad wie ein Tsuru no kubi 鶴の首 (Kranichhals) aufwärts gerichtet ist. Die Augen fixieren das Ziel wie ein Tiger, der seine Beute schlagen will.
Die vordere (linke) Schulter ist tief, die hintere (rechte) Schulter hoch → Zen ken hikuku – Kou ken takaku 前肩 低 後肩 高. Beide Schultern sind entspannt.
V: HIKI TORI 引き取り – den Yumi spannen
Hier gibt es zwei unterschiedliche Bewegungen: Der linke Arm drückt von der Schulter weg geradeaus, während der rechte Arm seine Stellung behält. Beim Te no uchi 手の内 («das Geheimnis in der Hand», Bogengriff) ist die Kontaktstelle zum Yumi das Hautgewebe zwischen Daumen und Zeigefinger, genannt Koko 虎口 (Tigermaul). Drücke nicht mit dem Handballen. Die Bewegung wird weich und rund fortgesetzt, der rechte Arm zieht die Tsuru in einem grossen Bogen über die Ohrenspitze, wobei der Ursprung der Kraft im Ellbogen und den Schultern, nicht aber im Handgelenk liegt. Der linke Arm drückt immer weiter, streckt sich jedoch nicht völlig. Wenn die Zugbewegung vollendet ist, befindet sich der Ya in der Höhe deines Mundes. Das Verhältnis des Kraftaufwandes beträgt rund 70 Prozent Druck zu 30 Prozent Zug. Die linke Hand ist waagrecht, nicht aufwärts gerichtet. Der kleine Finger der linken Hand hält den Yumi fest; die anderen Finger sind entspannt. Der Griff der rechten Hand bleibt leicht einwärts gedreht, einerseits um die Tsuru von der vorzeitigen Loslösung zurückzuhalten, andererseits, um den Ya in Stellung zu halten. Das Kinn leicht eingezogen, blicke mit dem rechten Auge auf den Punkt des Zieles, aber halte beide Augen offen. Der Punkt des Zieles ist an der linken Seite des Yumi und oberhalb des Griffes sichtbar.
VI: KAI 会 – die Begegnung
Fühle im Kai die fünf Kreuze, um deinen Körper in volles Gleichgewicht zu bringen. Atme gleichmässig und natürlich. Der Augenblick des Loslassens «reift». Die Arme sind ausgestreckt mit dem Gefühl, waagrecht ausgedehnt zu sein.
Die Beine sind fest verankert. Oberkörper und Kopf sind aufgerichtet in einem Kreis des Gleichgewichts, der sich immer weiter ausdehnt – auch innerlich, bis der Augenblick des Loslassens geschieht. Es ist wie ein Druck, der die gesamte Oberfläche eines Ballons aufbläht, bis die Ballonhaut platzt.
Go ju ju mon ji 五重十文字 Das fünffache Kreuz
Wenn ein Zimmermann ein Haus baut, so muss er sicherstellen, dass jeder Träger gerade und jede Kreuzung rechtwinklig ist. Im Kyudo sollen Ya und Yumi, Kake und Tsuru, Yumi und Griffhand, Oberkörper und Schultern, sowie Nacken und Ya zueinander rechtwinklig und im Lot stehen.
- Yumi und Ya: Der Yumi bildet mit dem Ya ein Kreuz, das weder auf- noch abwärts geneigt ist.
- Yumi und linker Handgriff: Der Yumi bildet ein Kreuz mit dem Griff. Der Handrücken steht waagerecht und ist nicht geneigt.
- Tsuru und rechter Handgriff: Der Daumen (nicht der Kake) bildet mit der Sehne ein Kreuz und zeigt in Richtung des Ziels.
- Schultern und Oberkörper: Die Symmetrielinie des Oberkörpers (Nabel bis Scheitel) bildet mit den Schultern ein Kreuz. Das Ziel liegt in der Ebene dieses Kreuzes.
- Ya und Halswirbelsäule: Die Halswirbelsäule bildet mit dem Ya ein Kreuz. Der Nacken soll nicht gebogen sein, das Kinn ist dem Ziel zugewandt.
VII: HANARE 離れ – lösen
Wenn der Augenblick des Loslassens gereift ist, schlägt die Kake-Hand nach rechts aussen wie ein Schwert, das im Ellbogen drehbar gelagert ist oder wie Schnee, der schwer von einem Bambusblatt fällt. Dein Blick folgt dem Ya zum Ziel. Die Energie im Körper darf dabei nicht verloren gehen.
E sha jo ri 会者定離
Kai und Hanare kommen aus der buddhistischen Lehre: e sha jo ri.
E und Kai sind Synonyme wie auch Ri und Hanare.
– e bedeutet Begegnung
– sha bedeutet Person
– jo bedeutet entscheiden
– ri bedeutet sich lösen
Kai und Hanare sind eins. Die Begegnung ist der Abschied, die Einheit ist die Trennung, Geburt und Tod, empfangen und loslassen.
für Fortgeschrittene
Drei Formen von Hanare (im Shi Kan no sho werden weitere Formen beschrieben)
– setsu (schneiden)
– butsu (kurz und scharf)
– futsu (strecken)
Fehler: Flaues Hanare: Tanemaki 種蒔き («säen»)
Finale
ZANSHIN 残心 – verweilen bei Geist und Körper
Nach dem Hanare halte den Kopf und die Arme in dieser Stellung, folge dem Weg des Ya. Erlaube deinem Geist, in diesem Raum zu verweilen.
YUMI DAOSHI, auch YUDAOSHI 弓倒し – senken des Yumi zur Hüfte
Zunächst drehe deinen Kopf langsam nach vorne. Führe den Yumi und die rechte Hand gleichzeitig mit einer bogenförmigen Bewegung zurück zur Hüfte. Schliesse die Beine, zuerst das linke, dann das rechte Bein. Dazwischen bewahre wiederum den Abstand von der Grösse einer Faust.
Hole den Ya in angemessener Weise zurück
Mache eine Vierteldrehung nach links zum Makiwara 巻藁 (Strohbündel). Gehe bis zum Makiwara vor, indem du nach dem ersten Schritt den Yumi senkrecht hältst. Drehe dich wieder um einen Viertelkreis nach rechts, so dass du den Ya vor deinem Gesicht hast. Hebe den Yumi gegen das Makiwara, bis die Yumihand nahe beim steckenden Ya ist. Drücke mit der Yumihand gegen das Makiwara und ziehe mit der Kakehand den Ya aus dem Makiwara. «Heile» die «Wunde» im Makiwara mit dem Zeigfinger der Kakehand. Wende dich wieder um 90° nach rechts und halte den Yumi und den Ya senkrecht auf Brusthöhe. Mit dem ersten Schritt senkst du den Yumi und den Ya wieder zur Hüfte und gehst zurück auf die Schiessposition.
Praxisformen
Makiwara-Renshu |
Distanz: ca. 2 m |
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Mato-Renshu |
Distanz: 28 m Kasumi mato (Nebelziel) Spezialziele
Pfeilspitze |
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Mato-Renshu |
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Mato-Renshu |
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Tsukubai つくばい |
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Enteki 遠的 |
Distanz: 60 m Pfeilspitze |
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Inagashi 射流し Ursprünglich war Inagashi ein Test für Bogenschützen. Dabei ging es darum einen «Pfeilhagel» auf ein Ziel zu schiessen, um einen Feind empfindlich zu schwächen. |
Distanz: soweit der Pfeil fliegt |
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Zeremonialform Reisha 礼射 |
Es wird auf das Makiwara oder das Mato geschossen. |
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Zeremonialform Shihobarai 四方払 |
Shintoistische Reinigungszeremonie der vier Himmelsrichtungen, die in traditionellem Hofgewand durchgeführt wird. |
Hitote 一手 eine Hand – Langdistanz 28m
Ritsu rey (Honza) |
Vorgehen auf Shai |
Ashibumi |
Sumi |
Füsse wieder |
Niederknien |
Yumi aufstellen, so dass er das linke Knie berührt |
Yumi mit dem rechten |
Pfeile einlegen: zuerst Haya (einnocken) |
dann Otoya einlegen (Federn zum Ziel) |
Innehalten, dann |
Ashibumi |
Mato wari (das Mato teilen) oder Sumashi |
Otoya anstellen |
Torikake |
Yumigamae |
Uchiokoshi |
Hikitori / Kai |
Hanare / Zanshin |
Yumidaoshi |